Über Flüsse und Schluchten
Die Schweiz und ihre Brückenbauer
Die Schweiz ist ein Brückenland: Mehr als 40 000 Brücken 1 überspannen Flüsse und Schluchten, verbinden Talseiten und Menschen und erschliessen die entlegensten Bergregionen. Die Vielfalt an Formen und Materialien ist gross. Sie reicht von mittelalterlichen Steinbogenbrücken über Balkenbrücken aus Gusseisen bis hin zu modernen Strassenviadukten aus Stahlbeton. «Im Ausland bewundert man die Schweiz für ihre Brücken», sagt Walter Kaufmann, Professor für Massiv- und Brückenbau an der ETH Zürich. Zwar kann das Land nicht mit Superlativen aufwarten, denn die meisten Brücken sind aufgrund der kleinräumigen Topografie von bescheidenem Ausmass: «Es gibt zumindest unter den neueren Brücken kaum welche, die als Wahrzeichen gelten.» Stattdessen sind Schweizer Brücken dafür bekannt, Effizienz, Ästhetik und sorgfältige Gestaltung zu vereinen. Mit viel Fachwissen, Kreativität und Mut haben Schweizer Brückenbauer Schmuckstücke geschaffen, die zu entdecken sich lohnt.
Der moderne Brückenbau in der Schweiz boomte ab Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung: Der Güter- und Personenverkehr nahm massiv zu, mehr und mehr Strassen und Eisenbahnlinien entstanden. «Die Bahn war ein wichtiger Treiber des modernen Brückenbaus», sagt Kaufmann. Denn man konnte Brücken nicht mehr wie zuvor unten in den Flusstälern bauen. Die Eisenbahntrassees durften nicht zu steil und zu kurvig sein, weshalb man sie hoch oben über die Täler führte. Das erforderte grössere Spannweiten, die mit den traditionellen Steinbogenbrücken nicht mehr zu machen waren – neue technische Lösungen waren gefragt.
Vom Handwerk zur Wissenschaft
Bei der Entwicklung neuer Bauprinzipien spielten Bauingenieure des jungen Eidgenössischen Polytechnikums, der heutigen ETH, eine wichtige Rolle. Die ETH war 1855 ausdrücklich auch mit dem Ziel gegründet worden, «Techniker für den Strassen-, Eisenbahn-, Wasser- und Brückenbau» 2 auszubilden. Eine wichtige Figur war Karl Culmann, der erste Professor für Ingenieurwissenschaften, der aus Deutschland stammte und als Eisenbahningenieur im bayerischen Staatsdienst gearbeitet hatte.
Er wurde als Verfasser des Werks «Die graphische Statik» 3 berühmt. Darin präsentierte er grafische Lösungen für komplexe baustatische Probleme, die heute noch Anwendung finden. «Die graphische Statik war ein bedeutender Fortschritt», sagt Kaufmann. Denn bis anhin war der Brückenbau ein Handwerk gewesen, das auf Erfahrungswissen beruhte und das begabte Baumeister 4 von Generation zu Generation weitergaben. An Ingenieurschulen im In- und Ausland erhielten die Bauingenieure nun eine wissenschaftliche Basis. Dadurch konnten sie erstmals Brücken den tatsächlich auftretenden Kräften entsprechend konstruieren. Das war besonders von Bedeutung für die neuen Fachwerkbrücken aus Eisen oder Stahl, die nun vielerorts für die Eisenbahn gebaut wurden.
Lernen aus Katastrophen
Der moderne Brückenbau steckte aber noch in den Kinderschuhen, und so ereigneten sich immer wieder tragische Unfälle. Beispielsweise stürzte in Schottland 1879 während eines Sturms die Firth-of-Tay-Brücke mit einem darüberfahrenden Zug ein. 5 , 6 Als Ursache wurden unter anderem Konstruktionsfehler ausgemacht. Im Jahre 1891 geschah das bisher grösste Bahnunglück in der Schweiz: Die Eisenbahnbrücke 7 über die Birs bei Münchenstein brach unter der Last eines Personenzugs zusammen und riss mehr als siebzig Menschen in den Tod. Die beiden ETH-Professoren Wilhelm Ritter und Ludwig Tetmajer – beides ehemalige Schüler Culmanns – wurden beauftragt, ein Gutachten 8 zur Unfallursache zu erstellen. Sie kamen zum Schluss, dass die Brücke Konstruktionsfehler aufwies und das verwendete Eisen eine ungenügende Qualität hatte.
Das Vertrauen in die neuen Stahlbrücken und in die rasante technische Entwicklung war erschüttert. Um die Sicherheit zu verbessern und ähnliche Katastrophen künftig zu verhindern, erliess das Post- und Eisenbahndepartement 1892 die Verordnung betreffend Berechnung und Prüfung der eisernen Brücken- und Dachkonstruktionen auf den schweizerischen Eisenbahnen 9 . Sämtliche bestehenden Brücken und Stützwerke wurden geprüft und teils verstärkt. Ausserdem wurden in der Folge Stahlbrücken massiver gebaut. Doch weil das Material teuer war, stiegen dadurch auch die Kosten.
Zurück zur Natur
In Graubünden kam es zu einer Renaissance der Bogenbrücken aus Stein. Dafür gab es einerseits finanzielle Gründe: Stein als Baumaterial war vor Ort zur Genüge vorhanden und liess sich günstig gewinnen. Wohl wichtiger waren aber gesellschaftliche Strömungen, welche die Schönheit der Gebirgslandschaft und kulturelle Traditionen bewahren wollten und die Eisenbrücken als störend empfanden. «Ehre dem Stein» war das Motto von Robert Moser, einem der prägenden Ingenieure der berühmten Albulalinie der Rhätischen Bahn, die um 1900 entstand und heute mit ihren 135 Brücken zum UNESCO-Weltkulturerbe 10 zählt. Für den Bau dieser und vieler weiterer Brücken erstellte der Gerüstbauer Richard Coray 11 fantastische, temporäre Hilfsgerüste, die fast noch kunstvoller waren als die Brücken selbst.
Neue Materialien und Formen
In den folgenden Jahrzehnten wurde der Brückenbau vielseitiger; neue Materialien, Formen und Gestaltungsweisen kamen zum Einsatz.
So trat zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Stahlbeton 12 seinen Siegeszug an – heute bestehen die meisten Brücken daraus. Das Material war günstiger als Naturstein, belastbar und erlaubte grössere Spannweiten. Als Pioniere des Stahlbeton-Brückenbaus in der Schweiz gelten die ETH-Ingenieure Robert Maillart 13 , dessen Nachlass 14 das ETH-Archiv hütet, und Alexandre Sarrasin. Sie entwarfen aussergewöhnlich filigrane und elegante Konstruktionen, die nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern auch effizient und materialsparend waren. «Maillart und Sarrasin bekamen praktisch jeden Auftrag, um den sie sich bewarben, weil ihre Brücken am wenigsten kosteten», sagt Kaufmann. Von Maillart stammt die 1930 fertiggestellte Salginatobelbrücke bei Schiers (GR), die als Meisterwerk der Ingenieurskunst gilt. Alexandre Sarrasin 15 , der vor allem in der Westschweiz wirkte, entwarf unter anderem den 1934 erbaute Pont de Gueuroz 16 , damals die höchste Strassenbrücke Europas. Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich im Brückenbau der vorgespannte Beton durch, eine Variante des Stahlbetons, die schlankere Tragwerke und grössere Stützweiten ermöglicht.
Symbole des Fortschritts
Mit einer ganz anderen Art von Brücken wurde der Bauingenieur Othmar Ammann 17 berühmt, der von 1897 bis 1902 an der ETH studiert hatte und kurz danach in die USA ausgewandert war: Er spezialisierte sich auf Hängebrücken, mit denen sich sehr grosse Spannweiten erreichen liessen. 1931 setzte er mit der George-Washington-Brücke über den New Yorker Hudson River neue Massstäbe – sie war mit 1067 Metern Spannweite die damals längste Hängebrücke der Welt. Beim Bau der Golden Gate Bridge wirkte Ammann als Berater mit. 18 Den Gipfel seines Schaffens aber bildete die monumentale Verrazano Narrows Bridge 19 (1964): eine doppelstöckige, zwölfspurige Autobrücke, welche die Meerenge zwischen Brooklyn und Staten Island überspannt. Für sein Lebenswerk überreichte ihm 1965 der US-Präsident Lyndon B. Johnson persönlich die begehrte National Medal of Science.
Bausünden und Widerstand
«Ammann war einer der letzten Brückenbauer, die schon fast als Helden angesehen wurden», sagt der Schweizer Brückenkonstrukteur Jürg Conzett, der 1980 an der ETH seinen Abschluss gemacht hat. Zu Conzetts Zeit hatte sich das Blatt bereits gewendet: «Die Zunft der Bauingenieure war in Verruf geraten.» Ein Grund dafür war der rasante Ausbau der Nationalstrassen: Schnell und billig musste er sein, und so wurden zum Teil wuchtige Konstrukte wie die Sihlhochstrasse in Zürich oder Abschnitte der Gotthardautobahn mitten in die Landschaft gepflanzt, ohne grosse Rücksicht auf Natur und Ästhetik. Der Widerstand gegen diese Art des Bauens wuchs. Neue Impulse setzte ab Mitte der 1980er-Jahre der berühmte Architekt und ETH-Bauingenieur Santiago Calatrava, der für seine extravaganten Brücken bekannt ist. «Was er entwarf, war neu, verrückt, künstlerisch», sagt Conzett. Damit habe Calatrava Diskussionen ausgelöst, die dazu beitrugen, den ästhetischen Aspekt wieder stärker zu gewichten.
Eleganz und Leichtigkeit
Doch die Ästhetik war auch während des Baubooms der 1960er- und 1970er-Jahre nicht völlig in Vergessenheit geraten. Einer von denen, die ihr treu blieben, war Christian Menn (1927–2018) 20 , der als einer der bedeutendsten Brückenbauer des 20. Jahrhunderts gilt. Er promovierte 1957 als Bauingenieur an der ETH und wurde später ETH-Professor für Baustatik und Konstruktion. Von ihm stammen über 100 Brücken im In- und Ausland, darunter auch viele Autobahnbrücken. Manche erinnern an die Entwürfe von Robert Maillart, etwa die Cascellabrücke als Teil der San-Bernardino-Route. Andere haben einen völlig anderen Stil, wie die 678 Meter lange Ganterbrücke am Fusse des Simplonpasses. Diese erregte weltweit Aufsehen und wurde für ihre kühne Gestaltung gelobt, rief durch ihr dominantes Erscheinungsbild aber auch Kritik hervor. Vielleicht gilt sie gerade deshalb als eines der wenigen Brückenwahrzeichen der Schweiz. Menn selbst sagte einmal in einem Interview 21 : «Ingenieurskunst besteht auch darin, etwas so zu konstruieren, dass es den Laien durch Eleganz und Leichtigkeit verblüfft.» Gelungen ist ihm das sicherlich mit der Sunnibergbrücke bei Klosters (GR), die mehrere internationale Auszeichnungen erhielt.
Grundsätzlich war Menn ein sorgsamer Umgang mit der Landschaft wichtig. «Diese Haltung ist auch heute noch charakteristisch für die Schweizer Baukultur», glaubt Jürg Conzett. Er selbst legt bei seinen Projekten zudem ein Augenmerk auf das historische und kulturelle Erbe: Beispielsweise baut er zurzeit im Dorf Bondo im Bergell (GR) drei durch einen Murgang zerstörte Brücken neu auf – zwar in moderner Betonbauweise, aber die geschwungenen Formen greifen die Tradition der Bergeller Steinbogenbrücken auf und führen diese fort. Conzett hat auch viele historische Steinbrücken der Rhätischen Bahn in Graubünden instand gesetzt, ebenso einige Stahlbetonbrücken von Robert Maillart.
Brückenpflege – eine Daueraufgabe
Nicht nur historische Bauwerke brauchen Pflege, auch der Unterhalt der neueren Strassenbrücken ist eine Daueraufgabe. Hierzu trägt auch die ETH ihren Teil bei. «Instand halten ist zwar viel unspektakulärer, als neue Brücken zu bauen, dafür aber viel relevanter», sagt Kaufmann. Er erstellt Gutachten im Auftrag des Bundesamts für Strassen und berechnet die Statik bestehender Brücken mit modernen Methoden neu, um ihre Tragfähigkeit zu überprüfen. In der Bauhalle 22 der ETH auf dem Hönggerberg testet seine Forschungsgruppe unter anderem mit riesigen hydraulischen Pressen die Festigkeit von Betonelementen. Kaufmanns Forschung soll dazu beitragen, dass Brücken nur dann instand gesetzt oder verstärkt werden, wenn dies auch wirklich nötig ist, wodurch sich massiv Kosten sparen lassen. Dieses Ziel verfolgt auch Eleni Chatzi, Professorin für Strukturmechanik und Monitoring an der ETH. Sie überwacht mithilfe von Sensoren und automatischer Datenauswertung den Zustand von Brücken, um kritische Stellen am Bauwerk zu finden und diese gezielt instand zu setzen.
Zukunft gestalten
Nach wie vor entstehen in der Schweiz auch neue Brücken, doch die meisten werden heute im Ausland gebaut, vor allem in Asien. Dort entstehen Bauwerke mit unvorstellbaren Dimensionen, wie die derzeit längste Brücke der Welt, die 164 Kilometer lange Danyang-Kunshan-Eisenbahnbrücke 23 in China. Viele der monumentalen Brücken sind Schrägseilbrücken, weil sich damit sehr effizient grosse Spannweiten von mehr als einem Kilometer erreichen lassen. 24 Die Entwicklung dieses Brückentyps ist nach wie vor im Gange. Experimentiert wird auch mit ultrahochfestem Beton, der mehr Dauerhaftigkeit verspricht. Abgesehen davon rechnet Kaufmann aber nicht mit bahnbrechenden Neuerungen: «Völlig neue Materialien oder Technologien werden wir in den nächsten Jahren nicht sehen.» Das sieht auch Jürg Conzett so. Er glaubt, dass eine Weiterentwicklung vor allem im gestalterischen Bereich stattfinden wird. In welche Richtung es in Zukunft auch gehen mag: Nicht zuletzt dank Schweizer Brückenbauerinnen und -bauern werden weiterhin Schmuckstücke entstehen, die zu entdecken sich lohnt.
Fussnoten
- Brückenbauwerke mit mehr als sechs Metern Länge; mündliche Auskunft von Walter Kaufmann ↩︎
- research-collection.ethz.ch/handle/20.500.11850/23268 ↩︎
- doi.org/10.3931/e-rara-20052 ↩︎
- Dazu zählten die Brüder Grubenmann, die einer Zimmermannsfamilie aus Teufen (AR) angehörten und im 18. Jahrhundert Brücken und Kirchen vor allem in der Ostschweiz bauten. Heute existieren nur noch wenige dieser Holzbrücken, die meisten wurden zerstört. ↩︎
- de.wikipedia.org/wiki/Eisenbahnunfall_auf_der_Firth-of-Tay-Br%C3%BCcke ↩︎
- Theodor Fontane verarbeitete das Unglück zu seinem Gedicht «Die Brück’ am Tay». ↩︎
- Die Brücke hatte die Firma Eiffel et Comp. von Alexandre Gustave Eiffel gebaut, dem Erbauer des Eiffelturms. ↩︎
- e-periodica.ch/digbib/view?pid=sbz-002:1891:17::1992#1992 ↩︎
- e-periodica.ch/digbib/view?pid=sbz-002%3A1892%3A19%3A%3A889#1596 ↩︎
- rhb.ch/fileadmin/user_upload/redaktion/Ueber_die_RhB/UNESCO%20Welterbe/Dokumente/Kandidaturdossier/Deutsch/2a4_de.pdf ↩︎
- eth.swisscovery.slsp.ch/discovery/fulldisplay?docid=alma99117425090305503&context=L&vid=41SLSP_ETH:ETH&lang=en&search_scope=DiscoveryNetwork&adaptor=Local%20Search%20Engine&tab=discovery_network&query=any,contains,Richard%20coray&facet=tlevel,include,online_resources&offset=0 ↩︎
- Durch Armierungseisen im Innern verstärkter Beton. ↩︎
- library.ethz.ch/standorte-und-medien/plattformen/kurzportraets/robert-maillart-1872-1940.html ↩︎
- doi.org/10.3929/ethz-a-000619728 ↩︎
- hls-dhs-dss.ch/de/articles/031655/2015-04-20/ ↩︎
- e-periodica.ch/digbib/view?pid=bts-002%3A1934%3A60%3A%3A1458&referrer=search#1458 ↩︎
- blogs.ethz.ch/digital-collections/2019/07/05/von-einem-der-auszog-den-brueckenbau-zu-revolutionieren-teil-i/ ↩︎
- blogs.ethz.ch/digital-collections/2012/04/06/wie-viel-schweiz-steckt-in-san-francisco-der-bauingenieur-o-h-ammann-und-die-golden-gate-bridge/ ↩︎
- blogs.ethz.ch/digital-collections/2019/09/27/othmar-ammann-und-seine-bruecken-teil-ii/ ↩︎
- ethz.ch/content/main/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2018/07/brueckenbauer-christian-menn-gestorben.html ↩︎
- espazium.ch/de/aktuelles/gleichgewicht-ist-einer-der-schoensten-begriffe ↩︎
- ibk.ethz.ch/de/forschung/ResearchFT.html ↩︎
- de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_l%C3%A4ngsten_Br%C3%BCcken ↩︎
- Anmerkung von Walter Kaufmann: Die grössten Spannweiten sind immer noch Hängebrücken vorbehalten, momentan der im Bau befindlichen Çanakkale-1915-Brücke mit 2023 Metern Rekordspannweite über die Dardanellen (Türkei). Die längste Spannweite einer Schrägseilbrücke sind derzeit 1104 Meter (Russki-Brücke in Wladiwostok, Russland), möglich ist sicher noch etwas mehr. Schrägseilbrücken sind vor allem erfolgreich, da sie ohne Lehrgerüst gebaut werden können und somit sehr wirtschaftlich sind. Hängebrücken brauchen auch kein Lehrgerüst, aber man muss zuerst die Kabel bauen, bevor man mit dem Überbau anfangen kann – das dauert länger und ist teurer als bei einer Schrägseilbrücke, wo Kabel und Überbau gleichzeitig vorgebaut werden. ↩︎