Leben Totgesagte länger?

Auf den Spuren vermutlich ausgestorbener Wasserinsekten

  • Naturwissenschaften
Wehrenbach und eine Eiche bei schönstem (Herbst-)Wetter im Tobel
Wehrenbach und eine Eiche bei schönstem (Herbst-)Wetter im Tobel

Der Abend ist frisch, die Sonne bereits verschwunden und nur noch die erleuchteten Wolken hoch oben werfen etwas Licht auf die Baumriesen, Steinbrocken und Schafweiden entlang des Bachlaufes. Das Ziel der Gruppe ist eine feuchte Hangwiese voller Schachtelhalm und Riedgräser.

Die Feuchtwiese im Wehrenbachtobel. (Bilder: Verena Lubini)

Im Jahr 1888 fand hier Friedrich Ris eine bislang unbekannte Art der Köcherfliegen und gab ihr den Namen Microptila minutissima 1 . Ris studierte damals Medizin an der Universität Zürich und forschte in seiner Freizeit als Entomologe. Bis zu seinem Lebensende 1931 sollte er sich den Ruf eines bedeutenden Kenners der aquatischen Insektenfauna erwerben 2 .

Die Feuchtwiese im Wehrenbachtobel ist also die Terra typica, von hier stammt das Exemplar, das bei der wissenschaftlichen Beschreibung dieser Köcherfliege als Vorlage diente (Abbildung 2). Man weiss auch heute kaum etwas über die Art. Hierzulande fand man nach 1888 keine weiteren Exemplare von Microptila minutissima. Von Bayern, Italien, Griechenland, Albanien und Bulgarien wurden Vorkommen gemeldet, allerdings nur äusserst spärlich. Erst im Jahr 2004 entdeckte man in Bayern Larvenstadien und konnte endlich die Lebensweise dieser geheimnisvollen Tiere untersuchen: Die jungen Köcherfliegen halten sich bevorzugt in Quellfluren auf, also in flächig überrieselten Riedgebieten, wo sie für ihre Ernährung Kieselalgen vom Untergrund abschaben. Wie es der Name "minutissima" bereits andeutet, ist die Art winzig und erreicht im adulten Stadium nur wenige Millimeter Körpergrösse. Kein Wunder, dauerte ihre Entdeckung lange.

Bei der Wiese angekommen, beginnt die Gruppe den Leuchtturm aufzubauen. Von einer mannshohen Konstruktion aus Metallrohren fällt eine dünne, weisse Kunststoffgaze bis auf den sumpfigen Boden. Als die Leiterin der Gruppe, Verena Lubini, die UV-Lampe im Innern einschaltet, strahlt violettes Licht ins nächtliche Dunkel. Wenig später umschwirren Schnaken und Nachfalter den Turm und setzen sich auf die helle Gaze. Bei den ersten kleineren Köcherfliegen zieht Verena Lubini ein Fanggläschen aus der Hosentasche und sammelt sie von der Gaze ein.

Verena Lubini mit Fanggläsli. (Bild: Sandra Flatt)
Erste Köcherfliegen im Fanggläsli. (Bild: Sandra Flatt)

Erst eine taxonomische Analyse unter dem Mikroskop am nächsten Morgen wird Gewissheit bringen, ob Exemplare von Microptila minutissima dabei sind. Denn dies ist das Ziel der Expedition: Nach mehr als 130 Jahren will man die seltene Art am originalen Ort nochmals finden. Das wäre eine Sensation! Wirklich?

Adulte Köcherfliege der Art Beraea pullata, die bevorzugt in Quellfluren lebt und nur wenige Millimeter gross wird (Bild: Verena Lubini).
Exemplar der Köcherfliege Microptila minutissima, das 1888 gefunden wurde und bei der Erstbeschreibung vorlag. Die Fotografie stammt aus dem Digitialisierungsprojekt der Entomologischen Sammlung der ETH Zürich und zeigt nebst dem winzigen Insekt im unteren Bildbereich auch die dazugehörigen Etiketten. Von adulten Köcherfliegen dieser Art existieren keine Lebendaufnahmen (Bild: Entomologische Sammlung der ETH Zürich).

Kritische Leser mögen an dieser Stelle fragen, was ein erneuter Nachweis der Wissenschaft bringe, oder noch allgemeiner, warum ein wenige Millimeter grosses und kaum verbreitetes Insekt unsere Aufmerksamkeit verdiene. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass sich die Biodiversitätsforschung über Jahrzehnte mit solchen Fragen beschäftigte und eine kontroverse Diskussion zur Relevanz seltener Arten und zu Wert und Wichtigkeit von biologischer Vielfalt überhaupt lieferte. Heute wird allgemein akzeptiert, dass auch seltene Arten ein Ökosystem entscheidend beeinflussen können 3 . Unsere Entomologengruppe hat aber andere Ziele. Die Feuchtwiese im Wehrenbachtobel beheimatet eine Vielzahl seltener Pflanzen und Tierarten, sie steht aber bis heute nicht unter Schutz. Der Nachweis einer als ausgestorben geltenden Art würde die Unterschutzstellung bedeutend vereinfachen.

In der Schweiz gehören Gewässer und Feuchtgebiete zu den am stärksten beeinträchtigten Lebensräumen 4 . In Folge intensivierter Land- und Wasserwirtschaft, Urbanisierung und anderer menschgemachter Einflüsse haben sich Feuchtgebiete und Gewässer im letzten Jahrhundert stark gewandelt - mit gravierenden Verlusten für die Biodiversität und die landschaftliche Vielfalt. Ein hoher Prozentsatz der aquatischen Fauna steht in den Roten Listen der Schweiz 5 . Im Jahr 2013 erarbeitete daher das Bundesamt für Umwelt BAFU eine Gewässertypologie, die eine Beurteilung des Zustandes von Fliessgewässern erlaubt und eine Orientierung für Aufwertungsmassnahmen bietet 6 . Diese Typologie berücksichtigt allerdings nur abiotische, nicht aber biologische Kriterien, und diese wären für Renaturierungsmassnahmen besonders aussagekräftig. Eine solche Typologie könnte also darüber Auskunft geben, welche Arten in einem Gebiet natürlicherweise vorkommen sollten.

Die heutige Tierwelt der Schweiz lässt kaum Rückschlüsse auf den ursprünglichen Zustand eines Gewässers zu, da inzwischen viele Arten verschwunden sind. Mit Hilfe historischer Funddaten sollte es allerdings möglich sein, ein einigermassen akkurates Bild über die früher vorkommenden Artgemeinschaften in Gewässern zu rekonstruieren. Verena Lubini und Michael Greeff von der Entomologischen Sammlung der ETH Zürich haben daher seit 2020 gegen 20'000 historische Exemplare von Köcherfliegen, Libellen und Steinfliegen aus den Beständen der ETH Zürich digitalisiert. Das Projekt wird finanziert von der Partizipativen Wissenschaftsakademie 7 . Die historischen Funde reichen bis in die 1860er Jahre zurück und geben Einblicke in eine weitgehend verloren gegangenen Vielfalt an Wasserinsekten. Doch nicht nur das: Bei einigen Arten fand Verena Lubini ein erstaunliches Muster. Die Köcherfliege Brachycentrus subnubilis beispielsweise war bis 1916 nicht selten in der Schweiz, verschwand dann aber vollständig im ganzen Land. Im Jahr 2011 wurde erstmals wieder ein Fund gemeldet und seither mehren sich die Vorkommen jährlich, und zwar nicht bloss von wenigen Einzeltieren, sondern von ganzen Schwärmen. Wandert diese Art gerade erneut in die Schweiz ein? Oder gab es all die Jahrzehnte hindurch verborgene Populationen in der Schweiz, die sich nun aus unbekannten Gründen wieder stark vermehren? Auch solche Fragen treibt die kleine Gruppe im Wehrenbachtobel um. Vielleicht hatte die Köcherfliegenart Microptila minutissima vor einigen Jahrhunderten ebenfalls eine Blütezeit in der Schweiz und befindet sich momentan im Dornröschenschlaf. Die kleine Köcherfliege wäre in diesem Fall ein ausgezeichnetes Beispiel um zu studieren, wie Arten lange Zeiträume unbemerkt überdauern können.

In ihrem Heimlabor in Witikon untersucht Verena Lubini am nächsten Morgen dann die Handvoll kleiner Köcherfliegen, die ihr am Abend zuvor in die Lichtfalle geflogen sind. Es sind alles typische Quellarten, die sich mit grösster Sicherheit im Hangried entwickelt haben und nicht vom nahen Wehrenbach angeflogen sind: Ernodes articularis, Wormaldia occipitalis, Beraea pullata und Beraea maurus. Die gesuchte Art jedoch ist nicht dabei. Noch nicht. Die tatsächlich gefundenen Arten sind eindeutige Hinweise darauf, dass der Lebensraum immer noch intakt ist und auch den Ansprüchen der gesuchten Microptila minutissima genügen sollte. Nächstes Jahr will Verena Lubini die Wiese im Wehrenbachtobel schon im Mai besuchen. Die Vegetation ist dann noch tiefer und Verena Lubini hofft, dass sie nebst den fliegenden adulten Tieren vielleicht auch noch Larven im feuchten Boden finden kann. Sie weiss nur zu gut, dass erfolgreicher Naturschutz nicht nur aus griffigen Gesetzesartikeln und Massnahmen im Feld besteht, sondern zuallererst auf soliden Forschungsdaten beruht. Und diese erfordern viele Geduld und Hartnäckigkeit.

Fussnoten

  1. Ris F. 1897. Neuropterologischer Sammelbericht 1894–96. A. Neue schweizerische Hydroptiliden. Mitteilungen der Schweizerischen Entomologischen Gesellschaft, 9(10): 415–423. ↩︎
  2. Balmer H. 2010. Ris, Friedrich. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 16.04.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/032000/2010-04-16/, konsultiert am 15.10.2021. ↩︎
  3. Hooper DU, Chapin III FS, Ewel JJ, Hector A, Inchausti P, Lavorel S, ... & Wardle DA. 2005. Effects of biodiversity on ecosystem functioning: a consensus of current knowledge. Ecological monographs, 75(1): 3-35. ↩︎
  4. Bundesamt für Umwelt (BAFU). 2019. Liste der National Prioritären Arten und Lebensräume. In der Schweiz zu fördernde prioritäre Arten und Lebensräume. Bundesamt für Umwelt, Bern. Umwelt-Vollzug Nr. 1709: 99 S. ↩︎
  5. Lubini V, Knispel S, Sartori M, Vicentini H & Wagner A. 2012. Rote Listen Eintagsfliegen, Steinfliegen, Köcherfliegen. Gefährdete Arten der Schweiz, Stand 2010. Bundesamt für Umwelt, Bern, und Schweizer Zentrum für die Kartographie der Fauna, Neuenburg. Umwelt-Vollzug, 1212: 111 S. ↩︎
  6. Schaffner M, Pfaundler M & Göggel W. 2013. Fliessgewässertypisierung der Schweiz. Eine Grundlage für Gewässerbeurteilung und -entwicklung. Bundesamt für Umwelt, Bern. Umwelt-Wissen Nr. 1329: 63 S. ↩︎
  7. www.pwa.uzh.ch ↩︎

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